Schlagwörter
Bestattungssitten Gräberarchäologie Soziologie Habitus

Bearbeiterin: 

Judith Benedix

Diachrone und synchrone Analyse der frühmittelalterlichen Gräberfelder

Grossmahrische_Kirchen_in_Pohansko.jpgErste Kirche mit Gräberfeld im Bereich des Herrenhofes in Pohansko bei Breclav (Cáp, Dresler, Machácek, Prichystalová 2010, Abb. 1, 189)

Im Rahmen dieses Teilprojektes rücken Gräber und Gräberfelder, eine wichtige Quellengattung der archäologischen Forschung, in den Mittelpunkt der Diskussion um der Frage „Grenze, Kontaktzone oder Niemandsland?“ nachzugehen. Dazu werden bereits bekannte Gräberfelder des 6./7. bis 11. Jahrhunderts in Hinblick auf Veränderungen durch die Zeiten hinweg untersucht. Bis auf wenige Arbeiten, die ihren Fokus aber meist auf die Siedlungsentwicklung gelegt haben (Wawruschka 2009, Milo 2014), wurden diachron angelegte Untersuchungen bisher selten durchgeführt. Insbesondere Gräberfeldanalysenbefassen sich häufig nur mit bestimmten Zeitabschnitten, respektive mit Bestattungen, die unter einem ethnischen Label zusammengefasst werden (u. a. Distelberger 1996; Friesinger 1975-1977; Daim 2007).

Um eine Loslösung von bisherigen Klassifikationsschemata zu ermöglichen, werden die Untersuchungen innerhalb eines stringenten theoretischen Rahmens angelegt, der sich an soziologische Konzepte anlehnt. Die Adaption soziologischer Theorien auf archäologische Fragestellungen ist insofern geeignet, als dass beide Disziplinen versuchen gesellschaftliches Handeln zu erklären (und zu verstehen), obwohl sie unterschiedliche Quellen nutzen (Bernbeck 1997, 11).

Das ungarnzeitliche Grab von Gnadendorf (Foto (c) Landessammlungen Niederösterreich)

Das ungarnzeitliche Grab von Gnadendorf (Foto (c) Landessammlungen Niederösterreich)

Seit einigen Jahren sind handlungstheoretische Modelle, sowohl in der Soziologie als auch daran anknüpfend in der Archäologie stark vertreten. Als eine der grundlegenden Ansätze sind die Arbeiten des Soziologen Pierre Bourdieu zu nennen, bei denen die individuellen Handlungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Strukturen von zentraler Bedeutung sind (Dornan 2002; Petzold 2007, 73; Bernbeck 1997, 161). Demnach werden Individuen durch ihre Sozialisation innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Teilbereiche derart geprägt, dass nur begrenzte Handlungs- und Denkweisen für sie in Betracht kommen. Eine gleichartige Sozialisation äußert sich demnach bei verschiedenen Individuen wiederum durch ähnliche Merkmale ihres Handlungsspielraumes (grundlegend bei Bourdieu 1976, Bourdieu 1987 zusammenfassend auch bei Lenger, Schneickert Schuhmacher 2013). Daher ermöglicht die Beschreibung dieses individuellen Handlungsspielraumes, im besten Falle als wiederkehrende gleichartige Charakteristika bei mehreren Individuen, im Umkehrschluss Aussagen zu den prägenden gesellschaftlichen Teilbereichen, und sie ist in Folge dessen geeignet eine Rekonstruktion derselben vorzunehmen. Auch bei vergangenen Gesellschaften wird es diese eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten gegeben haben, die im archäologischen Befund zu wiederkehrenden Clustern führen und somit als deren materieller Ausdruck verstanden werden können (Schreg et al. 2013, 104–105).

Zudem ist bei der Interpretation von Bestattungen zu beachten, dass sie nicht unreflektiert als bloßer „Spiegel des Lebens“ zu verstehen sind und sich die Frage nach der Totenidentität weiterhin in Diskussion befindet. Vorgeschlagen hierfür werden unter anderem die Darstellung der Identität des Verstorbenen zu Lebzeiten sowie die Projektion seiner Stellung in einer jenseitigen Welt. Es wird aber auch argumentiert, dass die soziale Stellung und die Erwartungen der bestattenden Gemeinschaft in dieser Darstellung wiedergefunden werden können (Hofmann 2013; Härke 2013; Brather 2010).

Demzufolge entsprechen die aus der Beschreibung der Handlungsspielräume rekonstruierten Gesellschaftsbereiche nicht unbedingt jenen der Lebendgesellschaft, vielmehr sind sie als thanatospezifische Bereiche zu verstehen.

Für die Analyse der Bestattungen sollen alle publizierten Gräberfelder der Region aufgenommen werden, für eine statistische Auswertung aufbereitet und eingebettet in das theoretische Gerüst analysiert werden. Die Bestattungen werden als Individualkomplexe aufgefasst und verschiedene Kriterien, wie Grabbau, Grabbeigaben und Position des Leichnams berücksichtigt.

Das theoretisch-methodische Konzept dieser Studie soll dazu dienen, die Dynamik der Gräberfelder des 6./7. bis 11. Jahrhunderts in Hinblick auf Faktoren, die die Bestattungen beeinflussten besser zu erklären. Derartige Faktoren können unter anderem sein: Geschlecht, Status, religiöse Vorstellungen sowie unterschiedlichen Machtsphären.

Literatur:

Bernbeck 1997: R. Bernbeck, Theorien in der Archäologie. UTB für Wissenschaft Uni-Taschenbücher Archäologie, 1964 (Tübingen u.a:. 1997).

Bourdieu 1976: P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Frankfurt a.M 1976).

Bourdieu 1987: P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Frankfurt a. M. 1987).

Brather 2010: S. Brather, Memoria und Repräsentation. Frühmittelalterliche Bestattungen zwischen Erinnerung und Erwartung. In: S. Brather, D. Geuenich und Cnr. Huth (Hg.), Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde - Ergänzungsbände, 70 (Berlin, New York 2010) 247–284.

Cáp, Dresler, Machácek, Prichystalová 2010: P.Cáp, P. Dresler, J. Machácek, R. Prichystalová, Großmährische Kirchen in Pohansko bei Breclav. In: L. Polácek, J. Maríková-Kubková (Hg.), Frühmittelalterliche Kirchen als archäologische und historische Quelle. Internationale Tagungen in Mikulcice VIII (Brno 2010) 187–204.

Daim 2007: F. Daim (Hg.), Heldengrab im Niemandsland. Ein frühungarischer Reiter aus Niederösterreich ; Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung des RGZM, 14. September bis 19. November 2006. Römisch-Germanisches Zentralmuseum. Mosaiksteine, 2.( Mainz 2007).

Distelberger 1996: A. Diestelberger, Das awarische Gräberfeld von Mistelbach. (Niederösterreich). Monographien zur Frühgeschichte und Mittelalterarchäologie, 3 (Innsbruck 1996).

Dornan 2002: J. L. Dornan, Agency and Archaeology: Past, Present,and Future Directions, Journal of Archaeological Method and Theory 9/4, 2002, 303–329.

Friesinger 1975-1977: H. Friesinger, Studien zur Archäologie der Slawen in Niederösterreich. 2. Teil.Mitteilungen der Prähistorischen Kommission, 17 und 18 (Wien 1975-1977).

Härke 2013:H. Härke, Grave goods in early medieval burials. Messages and meanings, Mortality19/1,2013, 41–60.

Hofmann 2013: K. P. Hofmann, Gräber und Totenrituale. Zu aktuellen Theorien und Forschungsansätzen. In: H. E. Manfred (Hg.), Theorie in der Archäologie. Zur jüngeren Diskussion in Deutschland.Tübinger archäologische Taschenbücher, 10 (Münster 2013) 269–298.

Lenger, Schneickert Schuhmacher 2013: A. Lenger, Chr. Schneicker, F. Schumacher, Pierre Bourdieu Konzeption des Habitus. In: A. Lenger, Chr. Schneicker, F. Schumacher (Hg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven (Wiesbaden 2013).

Milo 2014: P. Milo, Frühmittelalterliche Siedlungen in Mitteleuropa. Eine vergleichende Strukturanalyse durch Archäologie und Geophysik. Studien zur Archäologie Europas 21 (2014).

Petzold 20017: K. Petzold, Soziologische Theorien in der Archäologie. Konzepte, Probleme, Möglichkeiten (Saarbrücken2005).

Schreg et al 2013: R. Schreg, J. Zerres, Jutta, H. Pantermehl, S. Wefers, L. Grunwald, Lutz, D Gronenborn, Habitus – ein soziologisches Konzept in der Archäologiem, Archäologische Informationen 36, 2013, 101–112.

Wawruschka 20019: C. Wawruschka, Frühmittelalterliche Siedlungsstrukturen in Niederösterreich.: Mitteilungen der Prähistorischen Kommission, 68(Wien 2003).